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Fragen und Antworten

Was sind Sperr­klauselsysteme?




Der Begriff "Sperrklauselsystem" bezeichnet die Kombination aus einer herkömmlichen Sperr­klausel mit einem ergänzenden wahltechnischen Instrument, welches geeignet ist, die angestrebte Hauptwirkung der Sperrklausel zu optimieren bzw. ihre unerwünschten Nebenwirkungen zu reduzieren.

Als wichtigste positive Wirkung der Sperrklausel wird gemeinhin ihre Fähigkeit eingeschätzt, einen Schutz vor Parteienzersplitterung zu bieten und so die parlamentarische Demokratie zu stabili­sie­ren. Die wichtigste negative Wirkung der Sperr­klausel dürfte die Verletzung des Grund­satzes der gleichen Wahl sein. Mit Hilfe eines Sperr­klauselsystems lässt sich der unvermeidliche Eingriff in Grundrechte minimieren oder gar gänzlich beseitigen, ohne dass die eigentliche Schutzwirkung der Sperrklausel beeinträchtigt wird.


   

Welche Sperr­klausel­systeme gibt es?

Das bekannteste Sperrklauselsystem ist die Ersatzstimme, auch Alternativstimme, Hilfs­stimme, Nebenstimme oder Eventualstimme genannt. Eng verwandt mit diesem Instrument ist die Dualwahl.

Ein weiteres Sperrklauselsystem bestände darin, einen zusätzlichen Stichwahlgang einzuführen, in dem nur noch diejenigen Parteilisten vertreten wären, die im ersten Wahlgang das Sperrquorum übersprungen hätten.

Leider ist bisher noch kein einziges Sperrklausel­system in der Praxis erprobt werden. Vielmehr kamen in Deutschland und anderen Staaten bislang ausschließlich "rohe" Sperrklauseln zum Einsatz, die keine Kompensations­mechanismen zum besseren Schutz von Grundrechten enthielten. Mit der Entwicklung zuverlässiger Sperrklausel­systeme dürften unkompensierte Sperrklauseln bald als nicht mehr zeitgemäß gelten.

Sperrklauselsysteme können auf sehr unterschiedliche Art ausgestaltet werden. Im folgenden sollen die wichtigsten Stellschrauben, an denen man drehen kann, vorgestellt und die Vor- und Nachteile der einzelnen Varianten untersucht werden. Insbesondere werden die folgenden Fragestellungen diskutiert:


Themenkomplex 1:
Virtuelle vs. reale Stichwahl


Eine reale Stichwahl bei Parteilisten-Wahlen würde bedeuten, dass es einen zusätzlichen Wahltermin gibt, der z.B. zwei Wochen nach dem Hauptwahlgang stattfindet. In dieser Stichwahl würden nur noch jene Parteien zur Wahl stehen, die im ersten Durchgang die Sperrhürde übersprungen hätten. Die Einführung eines expliziten Stichwahlgangs hätte den Vorteil, dass man es hier mit einem sehr bekannten Verfahren zu tun hat, welches sich - u.a. bei der Direktwahl der Bürgermeister - in jahrzehntelanger Praxis bewährt hat. Zu den Nachteilen einer realen Stichwahl zählt jedoch der erhebliche (zeitliche, personelle bzw. finanzielle) Mehraufwand für die öffentliche Hand und für die Wähler.

Problematisch ist bei Stichwahlen auch, dass sich die Zusammensetzung der Wählerschaft zwischen den Wahlgängen ändern kann. Bei Bürger­meister­wahlen sinkt die Wahlbeteiligung in der Stichwahl manchmal so stark ab, dass der letztlich gewählte Kandidat trotz reduzierter Konkurrenz weniger Stimmen - in absoluten Zahlen - erhält als der Führende des ersten Wahlgangs (Beispiel). Bei Stichwahlen mit Parteien sind eher gegenteilige Effekte zu erwarten, weil Anhänger großer Parteien den ersten Wahlgang als unwichtiger ansehen könnten und Anhänger kleiner Parteien dann dort überrepräsentiert wären. Doch egal in welche Richtung sich eine schwankende Wahlteilnahme auswirkt - die demokratische Legitimation des Verfahrens wird in beiden Fällen beeinträchtigt.

Hingegen beseitigt eine rein "virtuelle" Stich­wahl, die zeitgleich mit dem Hauptwahlgang stattfindet, sowohl das Problem des Mehraufwands als auch das Problem einer schwankenden Wählergesamtheit zwischen den Wahlgängen. Der Wähler/die Wählerin bestimmt bereits im ersten Wahlgang, welche Partei er/sie in der Stichwahl wählen will. Falls eine entsprechende Kennzeichnung fehlen sollte, zählt die Stimme im Stichwahlgang für dieselbe Partei, die der Wähler im Hauptwahlgang gewählt hat.

Eine solche Parteien-Stichwahl, die in den Hauptwahlgang mit integriert ist, soll im folgenden als "Dualwahl" bezeichnet werden.



Themenkomplex 2:
Ersatzstimme vs. Dualwahl


Auf den ersten Blick sieht das Instrument der Dualwahl dem bekannten Vorschlag der Ersatz­stimme bzw. Eventualstimme zum Verwechseln ähnlich, zumal beide Wahlsysteme auch stets zu identischen Verteilungswirkungen führen. Jedoch gibt es "unter der Haube" wichtige Unterschiede zwischen beiden Instrumenten, die hier näher erörtert werden. Am Ende der Analyse zeigt sich, dass die Ersatzstimme das Ziel, eine vollständige Gleichheit der Wahl zu erreichen, verfehlt, wohingegen sich juristisch sauber herleiten lässt, dass die Dualwahl eine vollständige Gleichheit der Wahl hervorbringt und somit verfassungskonform ist.



Themenkomplex 3:
Limitierte vs. unlimitierte Präferenzen


Sowohl Dualwahl wie auch Ersatzstimme können so ausgestaltet werden, dass entweder die Wähler beliebig vielen Parteien auf dem Stimmzettel einen Rangwert zuordnen dürfen oder dass die Wähler nur eine begrenzte Anzahl an nachrangigen Präferenzen (im Extremfall nur eine einzige weitere) vergeben dürfen. Die Begrenzung auf nur eine einzige Zusatzpräferenz hätte den Vorteil, dass sich der administrative Aufwand bei der Auszählung der Stimmen in Grenzen hält und dass das Wahl­verfahren auf Wählerseite sehr leicht verständlich wäre. Allerdings würde bei der Ersatzstimme die Verletzung der Gleichheit bzw. Freiheit der Wahl mit dieser Variante nur teilweise geheilt werden können. Zwar können die Wähler ihre Erstpräferenz nunmehr unbeeinflusst von taktischen Überlegungen zugunsten ihrer Lieblingspartei vergeben; aber bei der Vergabe der Zweitpräferenz müssen sie ggf. noch immer abwägen, ob sie das Risiko eingehen möchten, ihre Stimme zu verschenken, falls auch die von ihnen zweitpräferierte Partei am Sperrquorum scheitert - oder ob sie eine weniger bevorzugte Partei wählen, bei der sie jedoch sicher sind, dass sie in das Parlament einzieht. Also würde sich - wohlgemerkt nur bei der Ersatzstimme! - für einen kleinen Prozentsatz der betroffenen Kleinparteien-Wähler das Entscheidungs­dilemma des Status quo nicht auflösen, sondern nur eine Stufe weiter nach hinten verschieben. Allein das Einräumen einer unbegrenzt möglichen Anzahl an Präferenzen würde dort das Dilemma vollständig auflösen. Bei der Dualwahl hingegen bräuchte es noch nicht einmal eine unlimitierte Zahl an Präferenzen (wie bei der extendierten Dualwahl), um eine hundertprozentige Gleichheit der Wahl wieder herzustellen; vielmehr wäre dies auch bereits beim Standardmodell der Dualwahl mit seiner Beschränkung auf nur eine nachrangige Präferenz der Fall. Warum dies so ist, wird hier oder hier erklärt.



Themenkomplex 4:
Einstufige vs. mehrstufige Ersatzstimme bzw. Dualwahl


Bei der Ersatzstimme sind zwei Verfahren zur Übertragung der Stimmen denkbar. Einerseits könnte man sämtliche Stimmen, die an Unter-5-Prozent-Parteien gefallen sind, in einem Schwung an jene Parteien übertragen, die das Sperrquorum überwunden haben. Andererseits könnte ein mehrstufiges Verfahren zur Anwendung kommen, bei dem zunächst die Stimmen der schwächsten Partei an alle anderen Parteien übertragen werden; anschließend wird dasselbe für die zweit­schwächste Partei wiederholt, dann für die drittschwächste Partei usw., bis nur noch Parteien übrig sind, die einen kumulierten Stimmenanteil von mindestens 5 Prozent aufweisen. Auf diese Weise können möglicherweise auch Parteien, die bei den Erstpräferenzen zunächst unterhalb des Sperrquorums lagen, durch Stimmübertragungen am Ende das Sperrquorum noch überspringen.

Das mehrstufige Verfahren ist auf den ersten Blick gerechter, doch birgt es auch Gefahren in sich. Bereits im Vorfeld einer Wahl bestehen Anreize für eine Parteienzersplitterung, weil das Zerbrechen einer Partei in mehrere eigenständige Flügel nicht mehr das Todesurteil für die Absplitterungen bedeuten würde; vielmehr könnten sich alle Teilparteien weiterhin gegenseitig unterstützen, falls sie ihre Anhänger motivieren können, auch die jeweils befreundeten Parteien mit nachrangigen Präferenzen zu bedenken. Das mehrstufige Verfahren würde Absprachen und Kungeleien zwischen Parteien fördern und auch viele Wähler zu einem taktischen Verhalten motivieren. Nicht zuletzt sind sogar paradoxe Effekte denkbar in der Form, dass man seiner Lieblingspartei nützen kann, indem man die Stimme nicht ihr, sondern einer anderen Partei gibt. Mathematisch gesprochen geht es hier um die Verletzung des Monotonie-Kriteriums (siehe hierzu ein konkretes Beispiel). Aufgrund der erwähnten Mängel sollte auf die Einführung eines mehrstufigen Übertragungsverfahren bei der Ersatzstimme verzichtet werden.

Für die Dualwahl gilt eine analoge Argumentation zugunsten des einstufigen Verfahrens und gegen eine multiple Dualwahl. Allein der Stimmenanteil bei den Erstpräferenzen sollte das maßgebliche Kriterium sein, ob eine Partei in der Stichwahl vertreten ist. Die nachrangigen Präferenzen werden dann erst bei der Auswertung der Stichwahl selbst in den Blick genommen.



Themenkomplex 5:
Kästchenlösung vs. Nummern­lösung


Bezüglich der Frage, auf welche Weise die Wähler nachrangige Präferenzen kennzeichnen, gibt es drei mögliche Antworten: Rangziffern, Buchstaben oder Kästchen zum Ankreuzen.

Die Variante mit Rangziffern empfiehlt sich immer dann, wenn im Rahmen des Wahlsystems eine hohe Anzahl an Präferenzen vergeben werden darf. Die Wähler können dann im Zweifel alle Parteien, die sie für wählbar halten, durch­nummerieren in der Reihenfolge ihrer Präferenz, beginnend mit '1'. Alternativ ist auch immer eine Kennzeichung mittels des gewohnten Kreuzes möglich; dies gilt als gleichbedeutend mit der Angabe der Ziffer '1'. Die Ziffern-Variante hätte auch den Vorteil, dass der Stimmzettel in der gewohnten Form weitgehend bestehen bleiben könnte.

Sofern nur eine einzige nachrangige Präferenz vergeben werden darf, kann hierfür auch ein bestimmter Buchstabe definiert werden (z.B. 'E' wie "Ersatzstimme" oder 'S' wie "Stichwahl").

Schließlich gäbe es auch noch die Möglichkeit, auf dem Stimmzettel rechts neben den Parteinamen weitere Spalten bzw. Kästchen anzufügen, in denen die Erstpräferenz, Zweitpräferenz usw. mit Kreuzen markiert werden können. Wenn gemäß dem Wahlsystem allerdings eine theoretisch unbegrenzte Zahl an Präferenzen möglich ist, würde die hierfür erforderliche Matrix zu groß und unübersichtlich werden.



Themenkomplex 6:
Zentrale vs. dezentrale Auszählung


Wenn die Auszählung der Stimmen beim Instrument der Dualwahl bzw. Ersatzstimme wie gewohnt in den Wahllokalen stattfinden soll, ist von einem erhöhten Zeitbedarf auszugehen, weil ja nicht nur wie bisher die Erstpräferenzen, sondern für einen Teil der Stimmzettel auch noch die nachrangigen Präferenzen erfasst werden müssen. In einer Beispielrechnung (siehe Benken 2013, S.23-24) wurde ein zusätzlicher Zeitbedarf von 60 Minuten in einem repräsentativen Wahllokal ermittelt.

Falls eine Überlastung der Wahlhelfer vor Ort befürchtet wird, könnte man die Auszählung der nachrangigen Präferenzen auch an gesonderte Stichwahl-Wahlausschüsse delegieren. Bei dieser Variante würde das Wahlergebnis frühestens am Folgetag vorliegen. Die Wahlvorstände würden am Wahlabend lediglich die Erstpräferenzen auszählen; sie könnten darüber hinaus den Stichwahlausschüssen die Arbeit erleichtern, indem sie die Stimmzettel danach vorsortieren, ob diese nachrangige Präferenzen enthalten oder nicht.



Themenkomplex 7:
Ungültige Stimmen und NOTA-Option


Bei der Architektur der Ausgestaltungs­details von Ersatzstimme bzw. Dualwahl sollte ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, die Anzahl der ungültigen Stimmen zu minimieren. Wenn beispielsweise ein Wählen mittels Rangziffern eingeführt wird, sollte gleichzeitig definiert werden, dass ein Kreuz der Erstpräferenz '1' gleichgesetzt ist. Somit könnten auch diejenigen Wähler, die von der Änderung des Wahlsystems nichts mitbekommen haben, eine gültige Stimme abgeben.

Darüber hinaus sollte überlegt werden, auf dem Stimmzettel eine sogenannte NOTA-Option ("None Of The Above") einzuführen, mit der Wähler kennzeichnen können, dass sie keine der angebotenen Alternativen als wählbar ansehen. Bislang blieb dieser Gruppe von unzufriedenen Wählern nur, ihren Stimmzettel bewusst ungültig zu machen. Eine solche Änderung im Wahlrecht würde die Zahl der "echten" ungültigen Stimmen, die auf ein Versehen oder ein Nichtverständnis des Wahlverfahrens zurückzuführen sind, sichtbar machen.



Themenkomplex 8:
Ersatzstimme bzw. Dualwahl und offene Listen


Viele Wähler schätzen es, wenn sie mit ihrer Stimme die Rangfolge der Kandidaten auf den Parteilisten verändern können. In vielen Kommunalwahlgesetzen und auch im bayerischen Landtagswahlrecht ist das Prinzip offener Parteilisten schon lange verankert, und spätestens seit der Empfehlung der Enquete-Kommission Verfassungsreform im Jahr 1976 wird diskutiert, ob diese Möglichkeit auch bei Bundestagswahlen eingeführt werden solle.

Wenn allerdings moderne Sperrklauselsysteme wie Ersatzstimme und Dualwahl mit offenen Listen kombiniert werden, ergeben sich hieraus relativ komplexe Systeme. Wichtig ist, dass das daraus resultierende Wahlsystem für die Wähler noch überschaubar und für die Wahlbehörden und Wahlhelfer noch handhabbar bleibt. Der Arbeits­kreis Wahlrecht von Mehr Demokratie e.V. hat im Positionspapier "Reform des Bundestags­wahl­rechts" einen Vorschlag erarbeitet, wie beide Ziele auf möglichst effiziente und schonende Weise miteinander verbunden werden können.



Themenkomplex 9:
Die optimale Höhe des Sperrquorums


Wenn die Ersatzstimme/Dualwahl als Ergänzung zur herrschenden 5-Prozent-Sperrklausel eingeführt wird, hätte man mit Sicherheit ein gerechteres Wahlsystem erreicht. Damit hätte sich aber keineswegs auch die Diskussion erübrigt, ob es nicht ungerecht bzw. undemokratisch ist, nur solche Parteien ins Parlament zu lassen, die von mindestens fünf Prozent aller Wähler durch deren Erstpräferenz-Stimme unterstützt werden. Vielmehr müsste man untersuchen, ob nicht bereits schon eine niedrigere Hürde eine ausreichende Schutzwirkung entfalten kann.

Objektive Maßstäbe für die ideale Höhe des Sperrquorums sind naturgemäß schwer zu finden. Jede Begründung für einen höheren oder niedrigeren Schwellenwert ist normativ-subjektiv und damit letztlich willkürlich, und es macht wenig Sinn, mit angeblich rationalen Argumenten um Prozentpunkte oder gar Zehntelprozente feilschen zu wollen. Wichtig ist, überhaupt eine politische Diskussion über dieses Thema zu führen. Der Verband Mehr Demokratie e.V. beispielsweise befürwortet die Absenkung der Sperrklausel bei Bundestagswahlen auf drei Prozent. Diese maßvolle Forderung wird auch von vielen Politik­wissenschaftlern unterstützt.



Fazit:
Empfehlungen für ein Sperrklausel­system


Aus den obigen Ausführungen lassen sich konkrete politische Empfehlungen ableiten. Nach Ansicht des Verfassers ist das ideale Sperrklauselsystem

  • ein virtueller Stichwahlgang in Form einer Dualwahl
  • mit einer unbegrenzten Anzahl an zu verteilenden Präferenzen, die
  • in Form von Rangziffern vergeben werden und
  • mittels eines einstufigen Verfahrens ausgewertet werden (also eine sogenannte "extendierte Dualwahl").



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